Gedenkgottesdienst Aachen

Guter Gott,

in diesen Tagen sind die Bilder der Konzentrationslager wieder präsent. Sprachlos gedenken wir der 1.000000 Juden, die in Ausschwitz ermordet, der 6.000000 Juden, die in ganz Europa systematisch verfolgt und getötet wurden. Und da waren ja noch viel mehr Opfer und ihr Tod war nur das Ende unsäglicher Qualen.

Fassungslos betrauern wir, welche menschenverachtende Barbarei von unserem Land ausgegangen ist, wie viele mitgemacht, wie viele geschwiegen haben.

Könnten wir doch wenigstens sagen, dass Deutschland aus seiner Geschichte gelernt hat.

Aber dasselbe Böse wie damals gewinnt wieder in unserem Land Gestalt: nationale Wahnideen, Hass auf jeden, der anders ist, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Menschen werden zu Sündenböcken und für alles verantwortlich gemacht, was Anlass zur Unzufriedenheit im Land ist.

Viele machen mit, viele schweigen…und wir?

Herr, erbarme dich über uns

Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Der dein Leben vom Verderben erlöst und heilet alle deine Gebrechen

Predigt am 26.1.2020 in der Genezareth-Kirche in Aachen im Gedenkgottesdienst für die Opfer des Nationalsozialismus

Liebe Gemeinde,

am vergangenen Donnerstag hat Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Bundespräsident, eine denkwürdige Rede in Yad Vashem, der Holocaustgedenkstätte in Jerusalem gehalten.

75 Jahre nach der Befreiung von Ausschwitz durfte zum ersten Mal ein Staatsoberhaupt des Täterlandes an diesem Ort sprechen.

Was für eine Verantwortung!

„Der industrielle Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – es wurde von meinen Landsleuten begangen.“ Er stehe hier als Präsident „beladen mit großer historischer Schuld“.

Ein Schuldbekenntnis vor der ganzen Welt, mit klaren, geraden und knappen Worten, ohne Pathos, demütig.

Was verbirgt sich hinter diesem treffenden Begriff „industrieller Massenmord an 6 Millionen Juden“, der durch die Todesfuge von Paul Celan 1945 in die Literatur eingegangen ist mit der Aussage „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“?

Liest man Berichte über das, was in den Lagern geschehen ist, was Täter, die wie Menschen aussahen, anderen Menschen angetan haben, so kommt jeder halbwegs empathische Mensch sehr schnell an die Grenze seines seelischen Fassungsvermögens. Die Grausamkeit allein macht sprachlos, die Zahl der Untaten ist schier unfassbar. Vielleicht kann man sich dem Geschehenen nur mit Zahlen und knappen Worten nähern, sie nicht zu verleugnen ist schon wieder alles andere als selbstverständlich.

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, wenn überhaupt, wird kaum einer von uns an diesen Taten aktiv beteiligt gewesen sein, aber das ist die historische Schuld, mit der wir als Deutsche beladen sind.

Und wir Christen? Wie sieht es mit der christlichen Schuld aus?

Auch wenn wir uns daran orientieren und erbauen, muss man zugeben, dass nur ein sehr kleiner Teil der Christen klar Position gegen den Nationalsozialismus bezogen hat, oder gar im Widerstand war. Die meisten sind dem nationalsozialistischen Wahn verfallen, haben das Vorgehen gegen die Juden toleriert oder sogar unterstützt, schließlich hatten die Juden Christi Tod am Kreuz zu verantworten.

Dass Jesus selber Jude war…

So stehen wir auch als Christen hier, beladen mit schwerer historischer Schuld.

Wie gehen wir damit um?

Die beiden Bronzefiguren stellen die Betende und den Gebeugten dar. Sie gehören zu der Ausstellung, die im Kreuzgang hängt. Der Fotograf, Jürgen Erbach, hat verschiedene Orte, die der Nationalsozialismus zu Unorten gemacht hat, heute mit der Kamera festgehalten. Und er hat auf die Fotos jeweils diese beiden Figuren gesetzt. Die Betende und den Gebeugten. Und er hat damit ein Bekenntnis abgelegt: Wo viele in dem Geschehen, dem wir als Ganzes den Namen Holocaust gegeben haben, einen Beweis dafür sehen, dass es keinen Gott in dieser Welt geben kann, jedenfalls keinen guten, hat er all diese Untaten mit Gott zusammengebracht.

Der Gebeugte erinnert an die Unzähligen, die von Unmenschen gebeugt und zerbrochen wurden, die Betende bringt das Geschehene

zutiefst berührt vor Gott. In dem Vertrauen, dass er nicht weggeschaut hat, dass er so berührt von dem unfassbaren Leid ist wie sie selbst, dass er die Opfer nicht ungerührt ihrem Schicksal überlässt, aber auch die Täter nicht untergehen lässt in ihrer Schuld.

Vielleicht kann man die beiden Figuren auch so interpretieren: Die Betende betet zu dem Gebeugten. Zu dem gebeugten Gott, der sich schon dem Mose vorgestellt als der „Ich werde da sein“, der seinen Ort an der Seite der Geschundenen hat, der in Ausschwitz ebenso da war wie am Kreuz Jesu, als der rief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Der da war, nicht um mit seinem Feueratem den Lauf der Geschichte zu verändern, wie wir das mitunter gerne hätten, um vor den Konsequenzen unseres Tuns geschützt zu werden, aber um dem Tod die letzte Macht über unser Leben zu nehmen.

Er ist dortgeblieben, wo alle anderen geflohen sind und weggeschaut haben, weil er der Treue ist. Zu ihm dürfen wir auch mit unserer Schuld kommen im Vertrauen, dass er uns davon befreit.

Der beunruhigendste Satz aus der Rede Frank-Walter Steinmeiers ist für mich jedoch dieser: „Ich wünschte sagen zu können, wir Deutschen haben für immer aus der Geschichte gelernt.“

Aber auch 75 Jahre nach dem Holocaust müssen Juden wieder an vielen Orten in der Welt, auch in Deutschland, um ihre Sicherheit bangen. Mal fliegen Beleidigungen, mal Steine, und in Halle hat lediglich eine schwere Synagogentür verhindert, dass ein Rechtsterrorist ein Massaker unter jüdischen Gläubigen angerichtet hätte.

Zeit, Worte und Täter seien nicht dieselben wie damals, aber es ist dasselbe Böse, sagte Frank-Walter Steinmeier.

Und an dieser Stelle wird die historische Schuld zu einer aktuellen Herausforderung und Aufgabe.

„Hier stehst du schweigend, aber wenn du dich wendest, schweige nicht“.

Wir haben uns als Christen relativ widerstandslos damit abgefunden, dass der Glaube ins stille Kämmerlein gehört, in den Bereich persönlicher Freizeitgestaltung, auf keinen Fall in die Gesellschaft oder gar in die Politik. Wir haben uns damit abgefunden, weil es auch bequem ist, und weil wir stark mit uns selbst, mit den Strukturen unserer Kirche beschäftigt waren. Wenn man allerdings unsere Gesellschaft ansieht, kann man feststellen, wohin das geführt hat.

Wohin man schaut – Gräben, kaum mehr irgendeine Brücke.

Ich fürchte, die Zeit der Bequemlichkeit ist vorbei. Rückzug und Schweigen sind keine Optionen mehr, wenn nicht aus historischer, neue aktuelle Schuld werden soll.

Vielleicht erinnern wir uns an Ausspruch Jesu: Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.

Wer, wenn nicht wir Christinnen und Christen, soll denn die Gräben zuschütten und die Brücken bauen, im Vertrauen darauf, dass Gottes Liebe einen langen Atem hat und uns dabei tragen wird.