Geleitwort zur Fotoausstellung „Untaten an Unorten“

Im Jahr 2015 gedenken wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und des Endes des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren. Die nationalsozialistische Schre-ckensherrschaft und der deutsche Vernichtungs- und Unterwerfungsfeldzug bilden das dunkelste Kapitel unserer Geschichte. Den Verbrechen fielen Millionen Juden, Minderheiten, Kranke und viele andere unschuldige Menschen zum Opfer, darunter viele Kinder und Jugendliche. Die Monstrosität dieser Verbrechen nimmt uns Deut-sche für immer in die Verantwortung, ihrer zu gedenken und gegen jede Form totali-tärer Herrschaft, Entrechtung, Unterdrückung und Intoleranz mutig und entschlossen einzustehen.

An die von Deutschen begangenen Verbrechen erinnern zahlreiche Gedenkstätten in unserem Land. Die meisten Gedenkstätten befinden sich an Orten, an denen viele Menschen ungeheures Leid erfahren haben und grausam getötet wurden. Durch die nationalsozialistischen Untaten wurden diese Orte gleichsam zu „Unorten“ unserer Geschichte.

Wie gehen wir mit diesem Teil unserer Geschichte um? Wie nähern wir uns den Or-ten, an denen das Ungeheuerliche stattgefunden hat? Und wie kann es gelingen, uns das Geschehene überhaupt auf eine Weise begreiflich zu machen, die uns nicht nur einen adäquaten Zugang zu den historischen Fakten, sondern auch einen inneren Bezug zum Leid der Opfer sowie eine angemessene moralische Haltung an- und einzunehmen erlaubt? Diese Fragen haben wir als Deutsche insgesamt zu beantwor-ten. Und jeder für sich ganz persönlich. Denn zur kollektiven historischen Verantwor-tung der Deutschen muss immer auch die innere Bereitschaft des Einzelnen zur Konfrontation und normativen Stellungnahme hinzukommen, die unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung erst zur Wahrhaftigkeit verhilft. Dieser Weg ist für jeden von uns häufig mit nahezu unüberwindlichen Hürden versehen. So erleben wir immer wieder auf schmerzliche Weise, dass der Versuch, das Geschehene und von den Opfern Empfundene mit den Mitteln der Sprache angemessen zu bezeichnen, zum Scheitern verurteilt sein kann. Und so, wie das Medium der Sprache versagen kann, so können auch wir bei der Vergegenwärtigung und Erklärung intellektuell und seelisch an Grenzen stoßen. Dann erfüllen uns Fassungslosigkeit und tiefe Trauer, verbunden mit dem starken Wunsch nach Trost und Frieden: Für die Opfer und durchaus auch für uns selbst. Das Erinnern und Gedenken wird so zu einem immerwährenden vorsichtig tastenden Versuch.

Professor Dr. Jürgen Erbach hat 24 „Unorte“ aufgesucht und sich unserer Vergan-genheit auf eine ganz besondere Weise mit der Kamera genähert. Seine Fotos - zu-meist symbolhafte Ausschnitte - sind weit mehr als eine bloße Repräsentation des Gesehenen. In ihnen verbindet sich das Dokumentarische der Fotografie mit der Er-innerung an die Verbrechen und dem Versuch, eine Antwort auf das Unbegreifliche zu finden. Auf seinen Reisen zu den Unorten wurde der Fotograf begleitet von der „Betenden“ und dem „Gebeugten“, zwei vom Bildhauer Heinrich Janke geschaffenen Bronzefiguren, die – mal im Vordergrund, mal eher versteckt - ein zentraler Bestand-teil der jeweiligen fotografischen Komposition werden und den fotografierten Ge-denkstätten eine weitere Dimension verleihen. Im „Gebeugten“ begegnen uns die Opfer und deren Leid. Und in der „Betenden“ erkennen wir uns selbst auf der Suche nach Antwort wie auch im Wunsch nach Trost und Vergebung. Im künstlerischen Arrangement von Ort und Figuren werden die Taten und deren Opfer mit den Überlebenden und Nachgeborenen subtil zusammengeführt, freilich ohne dass die Untat je die Herrschaft über die Opfer und unser Gebet zu nehmen vermag. Vergangenheit und Gegenwart bilden hier eine unauflösliche historisch-moralische Einheit, die uns in eine fortwährende Verantwortung nimmt und zum stillen Innehalten aufruft. Auf diese Weise gelingen Jürgen Erbach ein eindrucksvolles Plädoyer der Reflexion auf uns und unsere Geschichte und zugleich ein dringender moralischer Appell an Verantwortung und Gewissen.

Die Fotos sind Dokument einer ganz persönlichen Annäherung beider Künstler an unsere Geschichte und ein Angebot an uns alle, ihnen auf dem Weg in die Vergan-genheit und zu uns selbst zu folgen. Sie verzichten auf Antworten, wo es nur Fragen geben kann, und halten Abstand, wo das innere Forum des Einzelnen angesprochen ist. 

Ich danke den beiden Künstlern, Herrn Professor Jürgen Erbach sowie Herrn Heinrich Janke, sehr herzlich für ihre Idee und das großartige Engagement. Als Schirmherr habe ich den Wunsch, dass die als Fotoprojekt konzipierte Wanderausstellung die Köpfe und Herzen vieler Menschen erreicht und eine positive Resonanz erfährt.